Brüssel ringt um den richtigen Zeitpunkt
In Brüssel wurde eine Entscheidung getroffen, die Millionen Bürger in Europa direkt betreffen wird: Der Start des neuen europäischen Emissionshandelssystems ETS2 wird um ein Jahr verschoben. Was wie ein technisches Detail klingt, ist in Wahrheit ein politischer Drahtseilakt – und könnte über die Akzeptanz der gesamten europäischen Klimapolitik entscheiden.
Das EU-Parlament hat mit deutlicher Mehrheit für die neue Zielmarke von minus 90 Prozent Treibhausgasemissionen bis 2040 votiert, gemessen am Niveau von 1990. Doch während das Ziel ehrgeiziger denn je ist, wird das wichtigste Instrument zu seiner Erreichung nun erst 2028 starten. Ein Jahr später als geplant – und das ausgerechnet auf Druck jener Staaten, die sich schon lange gegen überhastete Klimavorgaben wehren.
Aufschub für Verbraucher und Wirtschaft
Der Aufschub betrifft vor allem Heizung und Verkehr, die beiden größten Emissionsquellen außerhalb der Industrie. Der ETS2 soll Brennstoffe wie Gas, Heizöl und Benzin künftig in das System der CO₂-Zertifikate einbeziehen. Energie- und Kraftstoffanbieter müssen dann Verschmutzungsrechte kaufen – Kosten, die unweigerlich an die Verbraucher weitergereicht werden.
Heizen mit Gas oder Autofahren mit Verbrennungsmotor wird dadurch spürbar teurer. Der Aufschub um ein Jahr verschafft Bürgern und Unternehmen nur eine kurze Atempause, bevor die Preisspirale beginnt. Schon jetzt warnen Experten vor deutlich steigenden Energiekosten, sobald der ETS2 greift.
Ein Abgeordneter aus Polen nannte die Entscheidung „einen Akt der Vernunft“. Man müsse die „sozialen Realitäten“ in Osteuropa berücksichtigen. Andere Parlamentarier kritisieren hingegen, Europa verliere mit dieser Verzögerung wertvolle Zeit im Kampf gegen den Klimawandel.
Der Preis der Emissionen
Das Emissionshandelssystem gilt als Herzstück der EU-Klimastrategie. Es folgt einem einfachen Prinzip: Wer CO₂ ausstößt, muss dafür zahlen. Die Zahl der Zertifikate ist begrenzt – je knapper sie werden, desto höher ihr Preis. So sollen Emissionen nicht durch Verbote, sondern durch wirtschaftliche Anreize sinken.
Doch das Modell birgt sozialen Sprengstoff. Je teurer die Zertifikate, desto stärker steigen Heiz- und Spritpreise. Kritiker warnen vor einer „CO₂-Steuer durch die Hintertür“, die besonders Haushalte mit geringem Einkommen trifft.
Befürworter halten dagegen: Nur ein Preissignal könne die Wirtschaft wirklich zum Umbau bewegen. „Marktwirtschaftlicher Klimaschutz ist die effektivste Form der Transformation“, erklärte ein Sprecher der Europäischen Kommission.
Politische Fronten verhärten sich
Hinter den Kulissen hatte sich in den vergangenen Wochen ein zähes Ringen abgespielt. Vor allem Polen und Rumänien drängten auf eine Verschiebung, unterstützt von mehreren süd- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Sie warnten, ein zu schneller Start würde ihre Energiepreise „explodieren“ lassen.
Der Kompromiss kam schließlich aus der EU-Kommission selbst, die einen Aufschub auf 2028 vorschlug. Das EU-Parlament schloss sich dieser Linie nun an – sehr zur Enttäuschung der Grünen und Klimaschützer. Ein Vertreter der Grünen sprach von einer „verlorenen Chance, die Dekarbonisierung endlich ernsthaft voranzutreiben“.
Trotz der Verzögerung bleibt die Richtung klar: Europa soll bis 2040 nahezu klimaneutral werden. Doch der Weg dorthin wird länger, teurer – und politisch härter.
Klimaziel 2040 – ehrgeizig, aber unter Druck
Mit dem 90-Prozent-Ziel hat sich die EU eines der ambitioniertesten Programme weltweit gesetzt. Doch während das Ziel auf dem Papier glänzt, zeigt die Realität Risse. Die wirtschaftlichen Folgen der Energiekrise, die hohen Schulden vieler Staaten und der wachsende Unmut in der Bevölkerung machen jede weitere Verschärfung heikel.
Trotzdem hält Brüssel an seiner Linie fest: Der ETS2 kommt – nur später. Die Verschiebung gilt als politischer Kompromiss zwischen ökonomischer Vernunft und ökologischer Ambition. Bis Jahresende wollen Rat und Parlament den endgültigen Gesetzestext absegnen.
Die Uhr tickt. Europa will das Klima retten – doch es muss aufpassen, dabei nicht die Menschen zu verlieren.
